Richterwahl: Aktivisten sagen, System sei fehlerhaft
Die Befürworter der Gerechtigkeitsinitiative wollen, dass die Mitglieder des Obersten Gerichts der Schweiz durch das Los bestimmt werden und nicht das Parlament gewählt wird.
Dieser Inhalt wurde am 10. November 2021 – 09:00 veröffentlicht
Sie argumentieren, dass dies den Wahlprozess entpolitisieren und die Gewaltenteilung sicherstellen wird.
Politische Parteien haben einen erheblichen Einfluss auf den Prozess, so Karen Stadelman, Mitglied InitiativkomiteeExterner Link.
Als Dozentin für Sozialarbeit ist sie Vorsitzende der Ortsgruppe der Zentrumspartei Luzern.
SWI swissinfo.ch: Hat die Schweiz ein Problem mit der Justiz?
Karen Stadelman: Weder direkt mit der Justiz, noch mit den Bundesrichtern selbst. Sie machen einen sehr guten Job und treffen ausgewogene Urteile. Wir haben jedoch ein systemisches Problem damit, wie Menschen in diesem Land in die höchsten Gerichtspositionen gelangen. Die Gerechtigkeitsinitiative wurde ins Leben gerufen, um dieses Problem anzugehen.
SWI: Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz bei der richterlichen Unabhängigkeit seit jeher sehr gut ab. Mit anderen Worten, kann das Problem nicht dringend sein?
KS: Es gibt gegensätzliche Meinungen. Wenn Sie sich beispielsweise ansehen, was für eine Datei GrecoExterner Link (Gruppe des Europarats gegen Korruption, Hrsg.) Kritisiert, die Lage sieht anders aus.
Der politische Charakter der Mandatsvergabe und der Beibehaltung der Mandatssteuer für politische Parteien verstößt gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.
SWI: Politischer Einfluss ist auch an anderen Orten vorhanden. Kann die Initiative in irgendeiner Weise eine völlige Entpolitisierung der Justiz in Gang setzen, oder bleibt das ein frommer Wunsch?
KS: Jeder hat eine politische Meinung und sollte diese auch äußern dürfen. Aber wenn er der Justiz angehört, muss er durchaus unabhängig von der Politik agieren können. Dies ist am besten gewährleistet, wenn sie dies unabhängig von den politischen Parteien tun können und nicht Mitglied sein müssen.
Wird die Initiative angenommen, darf der Richter trotzdem Parteimitglied sein. Für mich ist nichts falsch daran, einer Überzeugungspartei beizutreten.
Aber man muss sehen, dass die Rechtspflege besser akzeptiert würde, wenn das Volk wüsste: Richter, die Urteile fällen, sind keiner Partei angeschlossen und das Wahlsystem für die Ernennung zum Bundesrichter ist unabhängig von der Parteizugehörigkeit möglich. Und darum geht es uns letztendlich.
SWI: Ist es problematisch, wenn die höchsten Justizämter nach dem Verhältnis der Parteien verteilt werden? Gegner der Initiative sagen, dass dies das gesamte politische Spektrum repräsentieren würde.
KS: Es gibt zwei Betrachtungsweisen: Im Moment umfasst dieses Parteienverhältnis nur politische Meinungen. Andere Aspekte sind von untergeordneter Bedeutung. Die grosse Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten gehört keiner Partei an. Dieser Umstand ist im aktuellen System nicht abgedeckt.
SWI: Gerichte entscheiden zunehmend über politische Fälle. Ist eine indirekte politische Berichterstattung – wie wir sie heute haben – wünschenswerter?
KS: Richter treffen ihre Entscheidungen nie in jedem Fall nach politischen Kriterien. Die Tatsachen, auf denen Gerichtsverfahren beruhen, können dafür einfach nicht verwendet werden.
Bei einem besonders politisch sensiblen Thema ist es sicherlich sinnvoll, unterschiedliche politische Ansichten in das Urteil einfließen zu lassen. Aber das ist alles: Die eigenständige politische Ausrichtung der Partei fehlt heute. Dies kann je nach den Umständen den gleichen Wert haben.
SWI: Die Initiative schlägt auch eine Lotterie vor, was umstritten ist. Kann die Lotterie eine bessere Vielfalt garantieren als die Wählerschaft der Bundesrichter, der parlamentarische Gerichtsausschuss?
KS: Es geht nicht nur darum, mit Hilfe der Lotterie die erforderliche Anzahl an Personen aus dem Pot zu ziehen. Es geht darum, aus einem Pool geeigneter und geprüfter Kandidaten auszuwählen, die von einem bestimmten Expertengremium berufen werden.
Aus anderen Bereichen wissen wir, dass sich bei objektiver Gestaltung von Rekrutierungs- und Auswahlprozessen mehr Menschen um eine Stelle bewerben und auch mehr Vielfalt herrscht.
Dann werden die richtigen Leute in eine ausgewogene Schüssel gelegt, in der Lotto gespielt wird. Es geht also darum, qualifizierten Kandidaten die Tür zu öffnen.
SWI: Nach dem derzeitigen System werden Richter von einem Gericht vorgeschlagen und ihre Nominierungen werden vom Parlament genehmigt. Das bedeutet, dass die Ausschussmitglieder politisch verantwortlich sind – und das wird bei der Lotterie nicht der Fall sein. Ist das nicht problematisch?
KS: Nein, diese Rechenschaftspflicht ist nicht mehr nötig. Es wird eine Expertenrunde geben, die Vorschläge macht. Natürlich können sie manchmal suggerieren, dass die Person nicht gut passt, aber ich glaube nicht, dass das oft der Fall ist. Es wird besser sein als heute.
Die Klasse gewährleistet eine breitere Beteiligung am Bewerbungsprozess. Das Expertengremium entscheidet unabhängig und legt Wert auf fachliche Qualifikation statt Parteizugehörigkeit.
SWI: Das von den Initiatoren einberufene Expertengremium wird von der Regierung gemeinsam gebildet, die Mitglieder haben viel Macht, aber weit weniger politische Legitimität als die jetzigen Parlamentarier im Gerichtsgremium. Ist das nicht zweifelhaft?
Kanisa: Warum sollte das in Frage kommen? Offen gesagt sind es ausgewählte Experten – aus der akademischen Welt, aus der Gerichtspraxis, aber auch Personalexperten – und keine Politiker.
Es bleibt zu klären, wie diese Kommission im Gesetzgebungsverfahren genau strukturiert ist und wie wir sicherstellen, dass neben sprachlichen Kriterien auch andere Kriterien bei ihrer Zusammensetzung berücksichtigt werden.
SWI: Damit wird aber die Verantwortung von der Legislative auf die Exekutive verlagert. Das ist im Sinne der Gewaltenteilung nicht weniger problematisch, oder?
KS: Das Mandat zur Einsetzung eines anerkannten Expertengremiums führt dazu, dass die Regierung nicht nach Belieben handeln kann. Es kann nicht das tun, was die Parteien für angemessen halten.
Wenn die Regierung beispielsweise einen Bericht zur Evaluation eines neuen Gesetzes in Auftrag gibt, wendet sie sich auch an Personen mit bestimmten Kompetenzen. Für mich sollten sie Leute sein, die sich auf ihrem Gebiet auskennen, sich mit Wahlprozessen oder Mitarbeiterentscheidungen befassen und nicht die Interessen von Parteien oder einzelnen Ministern vertreten.
SWI: Sollten Richter selbst im Expertengremium vertreten sein?
KS: Wahrscheinlich nicht. Natürlich müssen sie auch unverbindliche Empfehlungen abgeben können, wie es bei anderen Einstellungsverfahren üblich ist. Aber es sollte kein Richtergremium sein, das mit sich selbst kooperiert.
SWI: Die Initiative sieht eine einmalige Wahl in das höchste Richteramt vor, um disziplinarische Auswirkungen durch Wiederwahlen zu vermeiden. Dies würde dem Einzelnen jedoch deutlich mehr Macht verleihen – und seine Wahl würde zu einem politischeren Thema. Nehmen wir nur das Beispiel des US Supreme Court.
KS: Diese sechsjährige Wiederwahl, wie sie heute stattfindet, ist sehr problematisch. Denn die Parteien können viel Druck ausüben, wenn Richter Entscheidungen treffen, die ihnen nicht gefallen.
Muss der Richter nicht mehr zur Wiederwahl antreten und kann das Amt bis in den Ruhestand geführt werden (laut Wortlaut der Initiative bis „fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters“, Anm. d. Red.), dann fällt der Druck automatisch weg . Somit ist der Prozess etwas entpolitisiert.
SWI: Das schweizerische System hat eine weitere Besonderheit, die vor allem aus dem Ausland stark kritisiert wird: einen finanziellen Beitrag, den Richter an ihre Parteien leisten müssen. Es gibt einen neuen Vorschlag, der die „Genehmigungssteuer“ abschaffen will. Begrüßen Sie diesen Schritt?
KS: Unser Initiativtext sagt dazu nichts, weil die Frage mit der Abschaffung der Parteipflicht überholt ist. Bleibt ein Richter freiwillig Mitglied einer Partei, kann er wie andere Mitglieder auch Beiträge leisten.
Mandatssteuern sind unter anderem eine wichtige Einnahmequelle für Parteien.
Das Verhältnis von Beiträgen und Gegenleistungen ist im Kontext der Justiz fraglich. Ich bin zuversichtlich, dass die Parteien über die Instrumente verfügen, um die Beschaffung von Finanzmitteln zu diversifizieren, aber es müssen andere Lösungen gefunden werden.
Das Interview ist aus dem Deutschen adaptiert / Urs
Senator Andrea Caroni kämpft gegen die Gerechtigkeitsinitiative. Im Interview mit swissinfo.ch erklärt er die Gründe.
„Kaffeeliebhaber. Leser. Extremer Zombiefanatiker. Professioneller Alkoholanwalt. Lebenslanger Fernsehliebhaber.“